Buchauszüge – Unter dem Flammenbaum

Vorwort

Es sind die Widrigkeiten – nicht die Höhenflüge – des Lebens, die aus Menschen Helden machen. Meine Mutter hatte nicht wenige Widrigkeiten in ihrem Leben. Kurz vor ihrem Begräbnis Anfang September 1988 saß ich an ihrem Schreibtisch, umgeben von diversen Überbleibseln eines bis zum Schluss bewegten Lebens – ihren abgestumpften Bleistiften, Erinnerungszetteln in verschiedenen Größen und Formaten, Zeichnungen und Aufschrieben. Ich überflog die zahlreichen Karten und Beileidsbezeugungen, die seit der Nachricht ihres Todes täglich durch die Tür meines Elternhauses geschoben worden waren. Erst in diesen Augenblicken wurde es mir klar, zu welch außerordentlichen Frau ich 29 Jahre lang „Mummy“ sagen durfte.

Diese Geschichte ist eigentlich ihre Geschichte, und auch die meines Vaters, an dessen Seite meine Mutter mitten im moralisch trüben Zwielicht des postkolonialen Westafrikas mit einer Tapferkeit und Integrität lebte, die für sie persönlich nicht immer vorteilhaft war. Nach dem eigenen Vorteil zu suchen war aber nie ihr Ziel. Die gleiche Standhaftigkeit kennzeichnete sie im Laufe des fünfjährigen Krebsleidens, das ihrem Leben nach der Rückkehr von Afrika ein viel zu frühes Ende setzte. In den 19 Afrikajahren, wie in den acht kurzen Jahren danach, war es meinen Eltern nicht bewusst, wie genau drei junge Augenpaare jede ihrer Bewegungen verfolgten und im Gedächtnis speicherten, und wie sehr sie unser Leben auch über lange Trennungen hinweg prägten. Manches, was diese Augen gesehen haben, ist in diesem Buch in einer Reihe von Momentaufnahmen dokumentiert. Einige Namen von noch lebenden Personen und den Namen des englischen Internats habe ich geändert.

Fehlerfrei war meine Mutter natürlich nicht, auch nicht ohne Widersprüche. Aber authentisch war sie immer, eine Frau, die ihr Leben an klaren christlichen Werten und nicht an Lustprinzipien entlangführte.

Dieses Buch ist meiner Mutter in großer Liebe und Wertschätzung gewidmet und auch meinem Vater, dessen Gedächtnis und Memoiren ich für vieles, vor allem in den Anfangskapiteln der Geschichte, ausgiebig plündern durfte.   Mein Dank gilt auch Tanya und Andrea, die mich mit einer Fülle lustiger Anekdoten aus unserer ungewöhnlichen Kindheit versorgten und die nicht nur geliebte Schwestern sind, sondern auch meine besten Freundinnen.

Der Abschied

…… Zwei schwarze Limousinen fuhren feierlich und langsam hinauf zu dem Haus, in dem meine Eltern ihre Familie gegründet und wir viele Heimaturlaube während der Jahre in Afrika verbracht hatten. Momentaufnahmen jagten durch mein Gedächtnis. Das schlichte, typisch englische Backsteinhaus mit seinem Erker: Die Kulisse für unbeschwerte Lebensanfänge. Die Fahrradwettrennen in der ruhigen Sackgasse, der Aufschrei „Please Mummy“, wenn sich der Eiswagen mit seiner klingenden Melodie anmeldete, der „milk man“ an der Tür in seinem weißen Kittel am frühen Morgen. All dies stand jetzt so lebendig vor mir, als wäre es gestern gewesen.

Der Sarg lag im ersten Auto, mit Blumen bedeckt, wir vier setzten uns ins zweite. Es war ein strahlender Tag im Spätsommer, und die satten Wiesen und farbenfrohen Kletterrosen und Hecken leuchteten mit der sanften Schönheit, die englische Dichter und Maler jahrhundertelang besungen und gemalt hatten.

„Es wäre einfacher, wenn es regnen würde“, flüsterte ich Tanya zu, die still und beklommen neben mir saß. Andrea setzte sich uns gegenüber neben unseren Vater und nahm seine Hand während er ununterbrochen gegen die Tränen ankämpfte. Seine Welt war zusammengebrochen.

„Wenigstens leidet sie nicht mehr“, sagte Tanya.

……

Jeder von uns rang auf seine Weise mit der Aufgabe, die Welt ohne unsere Mutter als Mittelpunkt neu zu definieren – herauszufinden, ob es ohne sie überhaupt eine Existenz geben konnte. So viele Spuren, Gedanken, Erinnerungen führten instinktiv und nach jahrelanger Gewohnheit zu ihr. Ihre Meinungen, Gefühle, Witze, Kommentare, Anweisungen hatten unser aller Leben bestimmt. Jetzt standen plötzlich überall Stoppschilder.

Die breiteste Spur der Erinnerungen aber führte immer wieder zurück nach Afrika. Hier schien kein Stoppschild zu stehen. Die warme, strahlende Sonne am Tag unseres letzten Abschieds von ihr schien wie ein Gruß aus dem fernen Land, wo sie die glücklichsten und prägendsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Gewitterwolken über Bukuru

Seit Anfang der Unruhen hatte es uns aber in die Psalmen verschlagen.

„Tanya, du bist an der Reihe“, sagte meine Mutter.

„Ok, passt gut auf,“ fing Tanya an und blätterte in ihrer Bibel.„Wer im Schutz des Höchsten wohnt, bleibt im Schatten des Allmächtigen. Ich sage zum Herrn: Meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, ich vertraue auf ihn!“

Diese Worte aus Psalm 91 hatten wir in den Tagen davor oft gelesen. Tanya konnte sie schon auswendig.

„Let’s pray“, sagte Daddy.

Was betet man in solchen Stunden? Wir knieten uns instinktiv auf den Boden und unsere Eltern gaben alle Menschen, die wir liebhatten, vor allem die, die ihres Lebens in diesen Stunden nicht sicher waren, in die Hände des Herrn. Wir beteten für Pastor James, für alle, die sich auf der Flucht befanden, für Frauen und Kinder in Iboland, die vor Sorge um ihre Männer fast wahnsinnig wurden, für die Verwandten in England, die sicherlich von den Unruhen in Nordnigeria erfahren hatten, und sich Sorgen machten. Am Schluss beteten wir zusammen das Vaterunser, und danach sangen wir die in der englischsprachigen Welt bekannteste und beliebteste aller Hymnen: „It is well with my soul“ („Mir ist wohl in dem Herrn“). Die alten Worte spendeten auch in diesen Augenblicken Trost:

„Nun leb ich für Christus, in Christus allein.

Sein Wort ist mein leuchtender Stern!

In ihm hab ich Fried und Erlösung von Pein,

Meine Seele lobsinget dem Herrn!

Mir ist wohl, mir ist wohl in dem Herrn!“

Wir versuchten zu schlafen. Danna lag zwischen unseren Betten, endlich zur Ruhe gekommen. Immer wieder, wenn ich endlich wegdöste, drang irgendein gellender Schrei aus der Stadt in mein erschöpftes Bewusstsein. Einmal kam das Gebrüll von ganz nahe, von der anderen Seite des Stacheldrahts, der unser Gelände von der Straße trennte. Die Routine einer Gräueltat kannte ich inzwischen: Die Monster erspähten ihre Beute, stürzten sich schadenfreudig auf sie. Würgegeräusche, Adrenalin auf Hochleistung, Gestöhne und das Ringen des Todeskampfes, Japsen nach Luft und Leben, ein letzter Hieb und dann Todesstille während die Mörder weiterzogen. Irgendwo, ein paar Meter entfernt, lag ein Mensch in der Dunkelheit auf dem Boden und verblutete. Schweißgebadet und zitternd zog ich meine Decke über meinen Kopf und klammerte ich mich an meinem Kopfkissen.

„All right girls?“ Mummy kam auf Zehenspitzen aus dem benachbarten Schlafzimmer herein und setzte sich an meine Bettkante, bis ich wieder eingeschlafen war. Alle Türen hatte sie weit offen gelassen. Daddy schlief sporadisch.

Um zwei Uhr nachts, nachdem auch ich endlich eingeschlafen war, schlich sich Tanya mit ihrer Bibel in der Hand zu unseren Eltern ins Zimmer.

„Wollt Ihr es noch mal hören?“ fragte sie leise. Sie schaltete das Lämpchen neben dem Bett an, setzte sich auf das Bett, und las in ihrer ruhigen Stimme: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt …“

….

Irgendwann am nächsten Tag war das Blutvergießen vorbei – so schnell und abrupt, wie es begonnen hatte. Daddy fuhr zu unserem Haus, um nach dem Rechten zu schauen und den Hausangestellten ihr Gehalt zu bezahlen. Auf dem Weg dorthin hielt er bei einem Ibo an, der splitternackt und traumatisiert am Straßenrand saß und auf den Tod wartete. Er hob den Mann in sein Auto und holte eine Decke und ein Brot aus dem Haus. Dann sah er auf einmal Nicholas, einen Nesco-Fahrer, auch ein Ibo, der aus dem Busch stolperte, orientierungslos und verwirrt. Er fuhr beide zur Polizeizentrale.

In den folgenden Tagen wurden alle Ibos, die das Gemetzel überlebt hatten, in die Sicherheit ihrer eigenen Heimat evakuiert. Es gibt Zeiten, in denen Meinungen von Kollegen und sogar Firmengesetze unwichtig werden. Dann geht es um Leben und Tod. So leerte mein Vater ohne schlechtes Gewissen den Tresor in seinem Büro und verteilte das Geld unter die Nesco-Mitarbeiter, die den Horror der vergangenen Tage zwar überlebt hatten, aber fast über Nacht obdachlose Flüchtlinge geworden waren.

In unsere kleine Welt kehrte nach und nach ein Anschein von Normalität zurück. Eine dunkle, bedrückte Stimmung hing jedoch weiterhin über der Gegend. Es herrschte eine bedrohliche Stille. Mein Vater ging wieder zur Bank, um Geld zu holen. Einen Mann in einem Anzug, der mit geschäftlichem Kalkül Scheine an einem der Schalter zählte, erkannte er als einen der Mörder, die am Vortag im Nesco-Hof den Ibo vor seinen Augen erschlagen hatten. Die Mörder hatten sich in ihrem Leben wieder eingerichtet, so als ob nichts geschehen wäre. Der Kontrast war grotesk.

Kinderparadies aus Staub und Sand

Aus dem Kapitel: Kinderparadies aus Staub und Sand

……An ein Leben vor Nigeria erinnerten wir uns bald nicht mehr. Es hatte ja lediglich aus den wenigen Monaten bestanden, die wir in Bushby verbracht hatten und die auf ein paar unscharfen schwarz-weißen Babybildern dokumentiert waren. Es war eine Art graue Vorzeit, in der man unter regenbedeckten Himmeln Wollmützen, dicke kratzige Strümpfe und Schuhe getragen hatte.

Das neue Revier, das zur Kulisse unserer prägendsten Lebensjahre werden sollte, trug den fantasielosen Namen „Vom Road“. Die Siedlung, in der wir wohnten, lag eben an der Straße, die zur nächsten Kleinstadt „Vom“ führte. Die Häuser der britischen Einwanderer lagen verstreut auf beiden Seiten der Straße, jedes Haus mit einem großzügigen Gelände umgeben, durch Eukalyptus-, Jakaranda- und Palasabäume und Hecken aus Lantanebüschen voneinander abgeschirmt….

…..Sobald wir richtig laufen konnten und ohne viel Aufsicht im eingezäunten Gelände spielen durften, machten wir uns energisch auf, jeden Winkel, jeden Stein und jede Pflanze dieser trostlosen afrikanischen Landschaft, die für unsere Kinderaugen einen überwältigenden Zauber entfaltete, zu erforschen. Für uns hatte sie bald eine Seele, und wir gestalteten aus ihr unsere ganz persönliche Idylle. Wir wussten nichts von der Sesamstraße, hatten keine Ahnung, wer das Sandmännchen war, und selbst Donald Duck und Micky Maus waren für uns Fremde. Fernsehen blieb ein seltenes Erlebnis, in dessen Genuss wir erst viel später auf Heimaturlaub in England kamen. Wir vermissten das alles nicht. Wir hatten nie ein Spielwarengeschäft von innen gesehen.

So schleppten wir tagsüber Puppen und Stofftiere in den Garten und bauten für sie Lager und Höhlen unter den Büschen. Wir verwandelten die Kieselstein-Einfahrt zum Haus in eine Rennbahn und veranstalteten mit Spielzeugautos halsbrecherische Wettrennen. Niemand klärte uns auf, dass nur Jungs mit Rennbahnen und Autos spielen. Von den Kindern unserer afrikanischen Angestellten lernten wir, aus einfachem Draht Fahrzeuge selber zu basteln und bestaunten die einheimische Kreativität, die aus dem Nichts wunderbare Kunstwerke hervorzaubern konnte. Raupen und Eidechsen bekamen Namen und wurden zu Persönlichkeiten. Fiktive Landschaften entstanden in dem großen Sandkasten, bewohnt von mächtigen Stammesoberhäuptern und tapferen Kriegern, die aus Knet geformt und mit Stoffresten bekleidet wurden.

Wenn wir zu müde zum Spielen waren, zerrieben wir Eukalyptusblätter und atmeten den heilsamen Duft ein, lauschten dem Wind in den hohen Eukalyptusbäumen und beobachteten die zwitschernden gelben Webervögel, deren Nester wie kleine Höhlen oder Birnen in den höchsten Ästen der Bäume hingen. Oder wir legten uns auf den Boden und blickten nach oben in das feurige Blütenmeer des „Flammenbaumes“, wie wir den „Flame of the Forest“ nannten. Abends erzählten wir uns Geschichten – ganze Serien davon, jeden Abend eine neue Episode. Oder wir sangen uns gegenseitig in den Schlaf. Wenn wir morgens aus dem Bett stiegen machten wir einen gewaltigen Sprung, fast bis zur Mitte unseres Zimmers. Denn in unserer Fantasie wohnte eine Familie von hungrigen Krokodilen unter jedem Bett, deren Lieblingsfutter die zarten Füße von kleinen Mädchen waren.

Für uns war es normal, die Erdbeerpflanzen mit einem langen Stock nach Schlangen abzutasten, bevor wir mit der Hand nach einer saftigen Frucht griffen. Ebenso das Gebüsch, in dem wir unsere Puppenlager bauten. Oder sorgfältig in den Sandalen nach Skorpionen zu schauen, bevor wir sie anzogen. Auch Steine im Garten konnten Skorpione beherbergen, und diese waren gefährlich. Wir dachten, alle Kinder der Welt würden es so machen. ….